Lob der Langsamkeit
Lob der Langsamkeit
Studenten sehen die Universität immer mehr als
Wettlaufarena.
'Bummeln' hat jedoch auch Vorteile. Womöglich reift dabei
die Persönlichkeit.
Darüber freuen sich die Arbeitgeber mehr als über 22 jährige Absolventen.
"Trauben, die im
Herbst als erste geerntet werden, verarbeitet der Winzer zum billigsten Wein.
Die Spätlese verspricht den feineren Geschmack, und die Reben für (…) die teuren
Eisweine werden bis in den Januar geerntet. Für den Winzer besteht dabei (…)
das Risiko, den Großteil der Ernte zu verlieren, denn manche Traube verfault.
Ein Begriff aus der Lehre vom Weinanbau, könnte auch Studenten interessieren,
die viele Semester an der Hochschule verweilen: Edelfäule. Auf den ersten
Blick sieht eine edelfaule Traube runzlig aus, doch dem Winzer bringt sie
Auszeichnungen und Geld.
Vom Obst zum Menschen: Felix Stadelheimer, (…) einer der Jahrgangbesten unter den Volkswirten, ist seit drei
Jahren in der Praktikumsschleife.
Die Banken sagen ihm im Abschlussgespräch immer, er sei fachlich zwar sehr gut,
passe jedoch „menschlich nicht ins Team“. Es ist frustrierend: Er hat schnell
und effizient studiert, und trotzdem geriet schnell Sand in das Getriebe seiner
Karriere. Mehr Zeit ließ sich Jochen Hermann. Er war im Alter von 27 Jahren
Diplom-Volkswirt, studierte aus
Interesse am Fach und Desinteresse am Berufseinstieg noch Geographie. Seine
Diplomarbeit schrieb er über chilenische Weinbauern. Mit Mitte 30 wurde er nach
einer entsprechenden Ausbildung SAP-Berater und arbeitet heute (…) gut
verdienend in einem Konzern.
Hochbegabte
Hörsaalküken
Musterschüler scheitern, vermeintliche Bummelstudenten
finden spät den Weg nach oben. Solche Einzelfälle sind zwar nicht
repräsentativ, aber geben ein Gespür dafür, dass die Studiendauer allein wenig
über Berufschancen aussagt. Trotzdem ist zu beobachten, dass die Studenten in
den Bachelor- und Masterjahrgängen fest an die Relevanz dieses Kriteriums glauben. (…) Die beiden 'objektivierbaren' Kriterien, Studiennoten und Dauer, werden als
wichtige Stellschrauben angesehen. (…)
Nur ein zweitrangiges
Kriterium
Wer diesen Wettlauf im Innersten nicht mitmachen will,
sollte dies einfach lassen (…). Denn die Wirtschaft betont, dass die
Studiendauer nur ein zweitrangiges Kriterium in der Einstellungspraxis sei. Der
deutsche Industrie- und Handelskammertag befragt dazu regelmäßig
Mitgliedsunternehmen. „In erster Linie
zählen andere Qualifikationen, und zwar persönliche und fachliche“, sagt
Referent K. Heidenreich. „Wenn die Zeit sinnvoll genutzt wird, zum Beispiel für
Praktika oder ein Ehrenamt, dann darf das Studium auch etwas länger dauern.“
Als wichtigstes
Einstellungsmerkmal wurde die Persönlichkeit des Bewerbers genannt, und
zwar von 88 Prozent der Unternehmen. Womöglich hängt beides miteinander
zusammen, die vielen Nennungen der Persönlichkeit und die wenigen der
Studiendauer. Denn eine Persönlichkeit braucht oft Zeit zum Reifen, und ein
allzu sportlich absolviertes Studium lässt diese Zeit nicht.
Die Jugend könnte zum
Einstellungshindernis werden
Wenn bald Fünfjährige eingeschult werden und nach
zwölfjähriger Schulzeit und acht Semestern Studium im Alter von 22 Jahren
Unternehmensberater, Rechtsanwalt oder Journalist werden wollen, könnte die
Jugend der Bewerber (…) für manches Unternehmen sogar zu einem
Einstellungshindernis werden. (…)
Nicht die reine Länge des Studiums trägt zum Reifen der
Persönlichkeit bei. Aber das, was nebenher stattfinden kann: Nebenjobs,
Berufserfahrung, Auszeiten. Viele Arbeitgeber wollen selbstbewusste
Mitarbeiter. Und Selbstbewusstsein kann
sich auch aus der Erfahrung speisen, nach Zweifeln und Krisen aus eigener Kraft
wieder Wege und attraktive Ziele gefunden zu haben.
„Employability“(…) Das Gesamtbild entscheidet über die
Arbeitstauglichkeit.
Anders als der Langzeitstudent, der an der Universität Bonn
immatrikuliert ist. Über den 52 Jahre alten Germanistikstudenten ist zu lesen,
dass er bereits seit 62 Semestern eingeschrieben ist. (…) Dieser Studententypus
wird wohl aussterben. Zumindest als Antithese zu den vielen jugendlichen
Wettlauf-Studenten, die immer jünger Karriere machen wollen, wäre es wichtig,
wenn auch künftig Menschen wie dieser an deutschen Universitäten eine Nische
finden dürften."
Quelle: F.A.Z. Von J. GROSSART