'Man soll seine Fehler ans Herz drücken'


"Man soll seine Fehler ans Herz drücken"




... Ein mit augenzwinkernder Weisheit antwortender Hans Magnus Enzensberger über den Charme des Unperfekten. Vielleicht ein Lehrstück für alle... Auszugsweises Zitat aus dem Interview mit Zeitmagazin:


"Enzensberger: Das Leben ist ein Stolperweg. Sie kennen die Geschichte von Thales, dem Philosophen: Er schaute immerfort zu den Sternen und fiel dabei in die Grube. Die thrakische Magd hat darüber gelacht; durch den Spott ist sie berühmt geworden. Wir stolpern alle hin und wieder – auf diese Weise kommen wir voran.

ZEITmagazin: Die Menschheit hat schon eine Menge Fehler gemacht. Wenn wir daraus lernen – warum sieht die Welt nicht besser aus?

Enzensberger: Die Möglichkeiten, etwas falsch zu machen, sind unendlich – wie die Zahlen. Und jeder Versuch, einen Fehler zu vermeiden, kann andere Fehler bewirken. Aber es gibt genauso viele Erfolge. Sie kommen unversehrt von einer Straßenseite auf die andere – ein Erfolg. Es gibt eine Menge gelungene Erfindungen. Zum Beispiel den Zebrastreifen: Es gehört sich nicht, Leute totzufahren. Irgendwann hat sich jemand in England etwas einfallen lassen, um diese Gefahr zu verringern. Das ist sehr lobenswert. Allerdings lassen sich Risiken nie gänzlich beseitigen. (…)



ZEITmagazin: Und wie haben Sie die Frage für sich entschieden?

Enzensberger: Ich richte mich nach dem Verkehr. Bei allen Grundsatzfragen gibt es einen pragmatischen Aspekt. Theorie und Empirie ergänzen einander. Wie Erfolg und Scheitern. Worauf es ankommt, ist die Reichhaltigkeit, die Vielfalt möglicher Erfahrungen. Wie man das nennt – Schöpfung, Natur, Evolution (…)


ZEITmagazin: Das heißt, wir müssen Fehler und Ärger in Kauf nehmen?

Enzensberger: Fehler kann man selten rückgängig machen – sie bleiben einem erhalten. Aber das ist doch nicht schlimm. Man sollte seine Fehler öfter ans Herz drücken.

ZEITmagazin: Gilt das auch, wenn man falsch investiert und alles verloren hat?

Enzensberger: Dann ist das Geld halt weg – na und? Wenn Sie spekulieren, gehört das zum Spiel; was soll Spekulieren denn sonst bedeuten? Im Finanzjargon spricht man von risikoaversen Anlegern. Für sie ist das Sparbuch das richtige: weder Gefahr noch Gewinn. Wenn Sie Gewinnchancen wollen, müssen Sie etwas wagen. Sich hinterher zu beklagen, wenn es schiefgegangen ist – das ist doch Unsinn!
(…)
ZEITmagazin: Auch wenn alles gut geht, gibt es Gründe, sich zu grämen: Umfragen zufolge machen sich die Deutschen von allen europäischen Völkern die größten Sorgen. (...)

Enzensberger: Schauen Sie, das ist ein einfacher Mechanismus. Es gibt einen bestimmten Bedarf an Sorgen. Nachfrage erzeugt bekanntlich das Angebot, und wir haben eine riesige Industrie, die dem eifrig nachkommt. Wenn das Angebot an bestehenden Problemen sinkt, muss man den Mangel kompensieren, also neue Probleme herbeischaffen: Dann berichten die Medien zum Beispiel über Schadstoffe in der Zahnpasta oder über Rückstände von Pestiziden im Kohlgemüse. Wenn du in einem Keller hockst, während Bomben herabfallen, hast du andere Ängste.


ZEITmagazin: Das heißt also: In schlechten wie in guten Zeiten findet sich immer etwas, das einen ärgert.

Enzensberger: Oder erfreut. Daher empfehle ich die Haltestelle. Es gibt die Bürokratie, die Dummheit, allerlei Schlampereien, aber diesen lästigen Sachen zum Trotz kommt in sehr vielen Fällen tatsächlich der Bus. Es gibt immer etwas, das richtig läuft.
 (…)
ZEITmagazin: Um bei apokalyptischen Szenarien zu bleiben: wenn alle ihre Steuern immer gesetzmäßig zahlen würden?

Enzensberger: Diese Gefahr besteht nicht: Selbst beim besten Willen kann kein Mensch alle Steuergesetze einhalten, weil niemand all diese Gesetze versteht. Aber das macht nichts. Die Welt funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Man wurstelt sich durch. Das machen alle, vom Sozialhilfeempfänger bis zum Bundeskanzler. Das ist doch allgemein bekannt. 
(...) Es hat doch gar keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Kompetenz und Inkompetenz bestehen immer nebeneinander. Der technische Ausdruck hierfür ist Fließgleichgewicht. Zwischen den Gegensätzen entsteht eine Art Balance... (...) Man sollte Exzesse der Vollkommenheit vermeiden."


                                                                                                         Quelle: zeit.de

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